Christophs Live Blog

30 April 2006

Die Spielerfabrik III

Die Sonne sticht. Wir halten uns im Schatten der Allee, die zum Feld der U17 führt. Dort ist der Nachwuchstrainer mit seinen 50 hoffnungsvollen Talenten bei der Arbeit. Noch hat er keinen rausgeworfen. "Ich will ihnen zunächst eine echte Chance geben. Bis Freitag werde ich mich entscheiden. Wir werden jetzt mit einigen Trainingsspielen weitermachen. Es wird sich bald zeigen."

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"Gestern lief es nicht so gut. Heute habe ich hoffentlich eine Chance, mich ordentlich zu präsentieren." In der Hand haben er und Elton identische weiße Anmeldebögen mit den üblichen Angaben: Name, Größe, Gewicht, Position und letzter Verein.Auf der Rückseite sind sieben Zeilen, eine für jeden Tag der peneira. Jedes Mal muss der Nachwuchstrainer die Leistung der Spieler mit seiner Unterschrift für gut befinden. Bekommen sie sie nicht, fliegen sie raus!

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Jene, die bereits im ersten Durchgang gespielt haben, kippen sich eiskaltes Wasser aus Plastikbechern über die Köpfe. Sie gießen sich auch Wasser in ihre Socken, Die Füße brennen, die Weihnachtsgeschenke, die sie von ihren Agenten bekommen haben, sind noch nicht eingelaufen. "Bestimmt dürfen wir beim nächsten Mal spielen. Es gibt ja so viele Spieler. Ich muss nur zeigen, dass ich besser bin", sagt Elton. Der Schatten wandert allmählich weiter und Rafael rückt etwas zur Seite, um der brennend heißen Sonne zu entgehen. Ich sehe die Unsicherheit in seinen Augen. "Du siehst, das Leben als Fußballer ist nicht leicht", sagt er und blickt in die Masse an begabten Spielern, die um die begehrten Plätze kämpfen.

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"Wir müssen uns zwischen Duschen und Essen entscheiden"

Bis 11 Uhr sind alle sechs Teams an der Reihe gewesen. Die Hitze macht es unmöglich weiterzuspielen. Die Spieler gehen in die Betonbaracke, um sich für die Rückfahrt fertig zu machen. Die Dusche ist so klein, dass sich eine Schlange bildet.

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Anfangs wohnte Paulo unter der Woche in Rio und fuhr an den Wochenenden nach Hause. Inzwischen geht das nicht mehr - meist hat er am Wochenende ein Spiel. Deshalb ist er ins Jugendheim auf der Rua Jaime Silvado 8 in Sao Conrado gezogen, im Süden von Rio. "Das ist ganz in Ordnung. Es gibt dort eine Frau, die uns Essen kocht und die Klamotten wäscht. Wenn es richtig voll ist, schlafen wir zu zwölft in einem Zimmer, in Etagenbetten."

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"Manchmal geht es ganz schön heiß her, aber wir müssen uns benehmen. Die Leitung will, das wir nachmittags zur Schule gehen. Das ist nicth leicht. Wir kommen kurz nach eins vom Training. Wenn wir noch in die Schule wollen, müssen wir uns zwischen Duschen und Mittagessen entscheiden. Beides ist nicht machbar - die Schule beginnt um zwei."

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Marlon hat keine ruhige Minute. Als ihm ein entscheidender Fehler unterläuft und der Ball ins Tor rutscht, sieht es so aus, als wolle seine Mutter im Erdboden versinken. "Mein Sohn! Mein Sohn!", seufzt sie und vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Adriana ist eine bildhübsche Brasilianerin mit rabenschwarzen Haaren, warmen braunen Augen und großen silbernen Ohrringen. Sie ist die Chefpsychologin von Flamengos Jugendabteilung. Alle Alterskategorien haben ihre eigenen festangestellten Psychologen, ein weiteres Detail, das den brasilianischen Fußball vom Rest der Welt unterscheidet. "Mindestens 80 Prozent unserer Spieler kommen aus armen Verhältnissen. Keiner ist krankenversichert, viele waren noch nie beim Zahnarzt", sagt Adriana. "Das Erste, was ich mit einem neu aufgenommenen Jungen mache, ist eine eingehende Beratung. Ich muss alles über ihn und seine Familie wissen, um ihm helfen zu können. Meist kommen Probleme aus der Familie dazu. Mutter und Vater streiten sich. Der Vater will, dass der Sohn besser spielt, um mehr Geld nach Hause zu bringen, während die Mutter will, dass er mehr studiert. Der Druck ist enorm. Die Eltern glauben, ihre Probleme seien gelöst, nur weil ihr Kind bei Flamengo angenommen wurde. Jedes Mal erkläre ich ihnen, dass nur sehr wenige die ganze Strecke durchhalten. Nur ein paar. Die Auslese ist grausam. Sie müssen dafür sorgen, dass ihre Kinder auch die Schule besuchen.

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Ich frage Adriana, was sie einem 16-jährigen sagt, der mit acht bei Flamengo angefangen hat und nun auf einmal den Verein verlassen muss. "Das macht er", sagt Adriana und deutet auf die Wand des Jugendleiters. "Meist lädt er die Eltern und den Spieler zu einem Treffen und sagt, wie die Lage ist. Dass sich der Spieler nicht so entwickelt hat, wie es sich der Verein erhofft hat, und dass er nun frei ist, sich einen anderen Verein zu suchen." "Frei?" "Was soll man sonst sagen? Es ist ein harter Beschluss, den man da verkünden muss. Viele weinen. Das Positive ist, dass die Spieler leichter einen Platz in einem kleineren Verein finden, wenn sie zuerst bei uns waren. Aber eines ist klar - die Jungs gehen sehr traurig weg."

{ der letzte Teil folgt vielleicht schon heute Abend, nun muß ich los zum Training! }