Christophs Live Blog

08 April 2006

Die Spielerfabrik

In den letzten vier Jahren hat Brasilien 3087 Profifußballer in alle Welt exportiert. Einige dominieren die Champions League, andere spielen in der zweiten russischen Liga.

Morgengrauen. Der Verkehr, der täglich von Rio den Janeiros breite Durchfahrtsstraße Avenida das Américas verstopft, ist noch nicht in Gang gekommen.. Einzig die Kolonne weißer VW-Busse mit armen Hausangestellten schiebt sich von den Favelas im Norden zu ihren Arbeitgebern im Süden. Die sonst lärmende Millionenstadt liegt noch still da. Es ist 6.55 Uhr, als 19 frisch gekämmte Jugendliche einen klapprigen Bus besteigen, der sie aufs Land hinaus bringen soll. Einige der Jungen sprechen leise miteinander, die meisten reden kein Wort.

"Das erste Mal ist furchtbar. Du bist angespannt, wagst nicht, aus dir herauszugehen. Es funktioniert nie. Das hier ist mein fünftes Mal. Ich weiß, worum es geht." Paulo Sérgio ist ein pickliger 16-jähriger, der in der Jugendmannschaft von Flamengo spielt, seit er zehn ist. Trotzdem muss er jedes Jahr durch diesen Albtraum, der für jeden brasilianischen Jugendspieler, der zur Elite gehöen will, inzwischen Routine ist. Es ist völlig schnurz, wie gut Paulo Sérgio im letzten Jahr gespielt hat. Wenn er nicht durch das Ausleseverfahren - peneira - kommt, muss er den Klub verlassen. "Cafú ging durch 14 verschiedene peneiras, bevor er einen Platz bekam. Sieh, wo er heute steht. Man muss einfach stur bleiben." Der Bus hält an der Rua Jaime Siolvado 8, dem Jugendheim von Flamengo für Spieler aus anderen Teilen Brasiliens, um noch mehr Jungen einzuladen. Die Flamengo-Fahne weht über dem Park. Einer der Spieler döst, sein Kopf folgt nickend den Bewegungen des Busses. Einige starren mit leeren Blick nach draußen, andere sind mit ihren iPods beschäftigt. Diese Jungs hier sind Brasiliens bestbezahlte Jugendliche. Sie verdienen weit mehr als ihre gleichaltrigen Schwestern, die sich an der Copacabana an weiße Touristen verkaufen. Das neu errichtete Trainingsgelände von Flamengo in Vargem Grande liegt 30 Kilometer außerhalb von Rio. Die Busfahrt dorthin dauert eine Stunde, morgens, wenn der Verkehr fließt. Zurück dauert sie zwei.

Die Sonne steigt rasch über die grünen Berge. Das Thermometer zeigt bereits 28 Grad. Der gemietete Stadtbus aus Rio de Janeiro biegt auf das Trainingsgelände und die jungen Talente steigen aus, hinein in das von Vogelgezwitscher erfüllte Grün. Sie verschwinden in einer schmalen Betonbaracke, um sich umzuziehen. "Kriegen wir Schienbeinschoner oder sollen wir unsere eigenen nehmen?" Der 16-jährige Elton kommt aus Natal im Nordosten Brasiliens und war drei Tage unterwegs, um hierher zu kommen. Im letzten Jahr hat er eine peneira beim FC Nova Iguacu mitgemacht, einem von Rio de Janeiros zahlreichen Farmklubs in den Vororten. Aus 40 viel versprechenden Talenten war Elton einer von zweien, die sich durch das gesamte Ausleseverfahren hindurch hindurch behaupten konnten. Jetzt hat ihm sein Agent einen Platz in einer der gefragtesten peneiras Brasiliens verschafft. "Wenn ich hier durchkomme, habe ich es geschafft. Dann ziehe ich hierher. Ein Freund von einem Freund meiner Mutter wohnt hier, bei dem kann ich bestimmt wohnen", sagt Elton und schnürt sich die Schuhe.

"Am Freitag werden es nur noch 20 sein"

Südamerikas größter Fußballverein hat 50 Jugendliche zwischen 15 und 16 Jahren zur ersten peneira des Jahres eingeladen. Die meisten Spieler kommen aus der U15 des Vereins und sollen getestet werden, ob sie das Zeug dazu haben, in die U17 aufgenommen zu werden. Ein Drittel der Teilnehmer kommt aus anderen Klubs von überall aus dem riesigen Land. Elton, der von seinem Agenten zu Weihnachten ein Paar neu Nike Total 90 geschenkt bekommen hat, trottet gemeinsam mit seinen Konkurrenten zu den Trainingsplätzen. Im Schlepptau der Spieler folgen der Zeugwart, der Konditionstrainer, der zweite Konditionstrainer, der Torwarttrainer, der Masseur, der Sportarzt, der Trainer und Co-Trainer. Alle Jugendmannschaften werden von einem achtköpfigen Stab gedrillt, und das ab dem Alter von zehn Jahren. Anthony Santoro, Cheftrainer der U17 von Flamengo, kommt als Letzter zum Trainingsplatz. Er stellt sich in den Schatten, den die Bäume am Spielfeldrand werfen. "Schau", sagt der 36-Jhrige und zeigt auf die 50 schweißgebadeten Jugendlichen, die in der Hitze wie ein Schwarm ängstlicher Rekruten joggen, "am Freitag werden es nur noch 20 sein."

... { zweiter Teil folgt in 48 Stunden }