Christophs Live Blog

10 April 2006

Die Spielerfabrik II

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Der schnellste Weg heraus aus diesem brasilianischen Kastenwesen heißt: Talent. Singen, Tanzen, Theater oder Fußball spielen. Von den Jungs entscheiden sich die meisten für Fußball. Das erste Hindernis für Millionen brasilianischer Fußballer ist eine peneira, was auf Portugiesisch soviel bedeutet wie Sieb. In dieses Sieb ergißen sich alle armen Talente des Landes, heraus kommt ein Konzentrat des Besten, was die erfolgreichste Fußballnation der Welt zu bieten hat. Alle unerwünschten schwachen Elemente werden aussortiert. Nur der Starke überlebt - Darwins Hinterlassenschaft an den brasilianischen Fußball.

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Jahr für Jahr fegt Tito wie ein Staubsauger über das größte Land der Südhalbkugel, immer auf der Jagd nach neuen Talenten. Er kann sich dabei auf 27 Fußballschulen stützen, die strategisch über ganz Brasilien verteilt sind. Überdies verfügt er über zahlreiche "olheiros", Augen, die in seinem Auftrag die Bolzplätze der Favelas in den Vorstädten besuchen. Täglich hält Flamengo außerdem Kontakt zu seinen Farmteams, die viel versprechende Jungs an das Leistungszentrum liefern. Wer glaubt, die Erklärung dafür, dass Brasilien innerhalb der letzten vier Jahre 3087 professionelle Spieler exportiert hat, seien leichte Dribbelspiele und ein wenig Strandfußball, unterliegt einem Klischee. Der brasilianische Export von Fußballern ist das Resultat gewissenhafter Arbeit und einer militärischen Disziplin, die in der Welt ihresgleichen suchen. "Ich kann es nicht leiden, wenn jemand glaubt, die Spieler wachsen hier auf den Bäumen", sagt Tito. "Es stimmt, dass wir hier viele Vorteile haben, wie etwa ein Klima, das es erlaubt, das ganze Jahr über zu spielen, und eine Historie, die junge Spieler lockt. Aber der eigentliche Grund ist unsere beharrliche Jugendarbeit." Tito beugt sich über den Schreibtisch. "Nimm, wen du willst aus der brasilianischen Nationalmannschaft - sie alle haben ganz unten angefangen. In der Fußballschule, als Achtjährige. Sie sind bereits Profis, bevor sie Jugendliche sind."

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Die Eintrittskarte in den brasilianischen Profifußball heißt Futsal, eine Erfindung aus Brasilien und Uruguay, die sich in den 30er Jahren über den Kontinent verbreitet hat. Futsal wird oft in Hallen gespielt, mit vier Feldspielern und einem Torwart pro Team. Hier fing Zico an - der größte Spieler, den Flamengo je hervorgebracht hat. "Jagt den Ball, Jungs, jagt ihn!", herrscht der 39-jährige Jugendtrainer Racinha seine Siebenjährigen an. Es ist neun Uhr am Morgen. Die Jungs laufen über das abgewetzte Parkett und starten einen Angriff nach dem Nächsten. Das hier ist alles andere als ein Spiel, diese kleinen Jungen üben sich in einer minutiös einstudierten Variante des Fußballs. Sie sind bereits strategisch geschult und küssen das Wappen auf dem Trikot, wenn sie ein Tor schießen.

"Man muss früh anfangen", sagt Racinha und lacht. Die Halle ist ein zweistöckiger Betonbau aus den 60ern, der damals in dieser verlotterten Gegend imposant gewirkt haben muss. Der FC River wurde 1914 im Stadtteil Piedade von ein paar Studenten gegründet, die der Meinung waren, dass Rio auf Englisch viel cooler klingt. Der Verein mischte mehrere Jahrzehnte in der klassischen Rio-Meisterschaft "Carioca" mit, doch seit einigen Jahren hat sich River ganz auf Futsal verlegt. Einen eigenen Rasenplatz zu unterhalten wurde irgendwann einfach zu teuer. Die Entwicklungsarbeit von River erinnert an Sportkaderschmieden in China oder Kuba. Man soll zeitig anfangen, gerne schon mit sechs oder sieben. Erst wenn die Kinder auf Disziplin gedrillt sind und alle technischen Finessen beherrschen, werden sie auf die großen Rasenplätze gelassen.

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Zico, Ronaldinho, Ronaldo, Adriano - sie alle haben mit Futsol unten angefangen.

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"Achte auf Lenny", sagt Racinha, "der mit den langen Haaren. Fluminese hat ihm bereits einen Vertrag angeboten. Ist das nicht toll?" Ich mustere den Jungen, sehe, wie leichtfüßig er ist, durchdachte Pässe spielt und über eine Ballkontrolle verfügt, die weit über dem Durchschnitt liegt. Ein Urteil darüber, ob das ein zukünftiger Profi ist, maße ich mir nicht an. "Ich weiß nicht, wie viel sie bezahlen werden. Das muss Fluminese mit seinem Vater aushandeln. Aber sie sind wirklich scharf auf den Jungen."

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Zurück in Vagrem Grande. Der legendäre Nachwuchstrainer von Flamengo, der Farbige Liminha, brüllt seine U20-Spieler an. Seine kurz geschorenen Haare werden allmählich grau, er erinnert stark an einen alten Captain des amerikanischen Marinekorps. "Jungs! Ich will euch nicht in Sandalen vor der Umkleidekabine herumspringen sehen und die Trikots werden nicht draußen aufgehängt. Ihr seid keine kleinen Kinder mehr, ihr gehört zu Flamengo! Wenn ihr hier seid, seid ihr bei der Arbeit! Habt ihr verstanden? Ob ihr verstanden habt!"

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Die Träningsplätze liegen auf einem Gelände, das der damalige Klubpräsident nach dem gewonnenen Weltpokal 1981 gekauft hatte. Abgesehen von einem Wachhäuschen blieb es 20 Jahre lang ungenutzt, bis das aktuelle Präsidium beschloss, auf eine regelrechte Spielerfabrik zu setzen. Der Lageplan zeigt bereits ein Restaurant sowie ein Hotel für die A-Mannschaft und die U20, einen Swimmingpool, ein kleines Stadion mit Tribüne und fünf Spielfelder - eines für jede Alterkategorie. Grüner Rasen sprießt bislang allerdings nur auf den Feldern für die U20 und die U17. Weitere Felder sind angelegt, bestehen aber noch aus nacktem Beton. Der Platz für die erste Mannschaft ist eine Baustelle. Daneben ist ein Schwimmbad vorgesehen, das sich noch im Planungsstadium befindet. An Stelle des Hotels und des Restaurants gibt es ein zweigeschossiges Gebäude, das als Herberge und Versammlungsraum dient.

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Wir müssen dieses Projekt durchziehen, um wieder Oberwasser zu gewinnen. Hier können wir unsere Talente großziehen", sagt Tito und deutet dorthin, wo die Spielfelder entstehen sollen. "Der Platz für die U11 soll hier liegen. Die weiteren Plätze schließen sich nach unten hin an. Wir wollen den Spielern von Anfang an ein Ziel geben: Sie fangen hier oben an und wandern immer weiter nach unten. Ganz unten soll die erste Mannschaft trainieren. Das ist gut für die Motivation. Die Jungs sollen ihr Ziel näher rücken sehen, während die Profis zugleich ständig daran erinnert werden, dass neue Spieler nachkommen."

... { dritter Teil in 48 Stunden }

P.S. Das bisher nur Oli einen Kommentar abgegeben hat zeigt, dass sich unsere Vollprofis mit diesem Text nicht auseinandersetzen, Schade, denn genau für sie ist er veröffentlicht!